Frei nach „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann, 1959) stelle ich mir die Frage, ist die Wahrheit auch dem Wähler zumutbar oder haben wir Wählerinnen und Wähler den Politikern ein ganz anderes Bild vermittelt.
Der berühmte Pensionistenbrief von Kanzler Vranitzkys hatte bestens funktioniert: „Die Pensionen sind sicher“ war deutlich mitentscheidend für den Wahlsieg der SPÖ 1995.
Natürlich konnte Franz Vranitzky nicht halten, was er den rund 2,1 Millionen wahlentscheidenden Pensionisten versprochen hatte – 1996 wurde der Krankenversicherungsbeitrag der Pensionisten um nur 0,25 Prozent erhöht, 1997 fiel die Pensionsanpassung überhaupt ins Wasser.
Gemäß dem Rat Ciceros: „Versprich vor der Wahl allen alles“ (mehr dazu siehe unten) haben wir Wählerinnen und Wähler aber die Lüge gerne glaubend, den Politiker für seine Unwahrheit belohnt.
Wolfgang Schüssel wiederum hatte geglaubt, mit dem Versprechen einer rigiden Sparpolitik bei den Wählerinnen und Wählern punkten zu können, die er “Schüssel-Ditz-Kurs” nannte” (wohl in Anlehnung an den “Raab-Kamitz-Kurs” der ÖVP in den 1950er Jahren).
Sein Credo, die Wahrheit (notwendige Sparpolitik) sei dem Wähler zumutbar ging gründlich schief – ja geradezu desaströs schief.
1999 erzielt die ÖVP mit Schüssel als Spitzenkandidat nur noch 26,9 Prozent und wurde die ÖVP erstmals bei Nationalratswahlen nur Dritter.
Entgegen seines Wahlversprechens als Dritter in Opposition zu gehen wurde Schüssel im Februar 2000 Bundeskanzler.
2002 wurde dieser Bruch des „Wahlversprechens“ mit 42,3 % erreichter Stimmen belohnt.
Kurz zusammengefasst: Vranitzky und Schüssel wurden für gebrochene Wahlversprechen belohnt, für die politische Wahrheit der Bewusstmachung des ermatteten Sozialstaats aber bestraft (Schüssel).
Die Wahrheit ist dem Wähler zumutbar?
Ähnliches wird den Reformern von SPÖ und ÖVP bei den steirischen Landtagswahlen am 31. Mai 2015 auch blühen.
Für so vernünftige Entscheidungen wie die Reduzierung der Landtagsmandate, Gemeindezusammenlegungen und Bezirksreformen werden sie abgestraft, die Mitbewerber für deren Nichtpolitik belohnt.
Die Wahrheit ist dem Wähler zumutbar oder ist es nicht genau umgekehrt – wir Wählerinnen und Wähler wollen die Wahrheit gar nicht hören, wir sind genau so, wie die Politiker uns seit mehr als 2.000 Jahren sehen?
Vierundsechzig v. Chr. schickte Quintus Tullius Cicero (* wohl 102 v. Chr.; † 43 v. Chr.) seinem Bruder Marcus, dem bedeutenden Staatsmann und Philosophen, einen langen Brief, in dem er ihm die Grundregeln der politischen Wahlkampfführung darlegte.
Marcus, damals noch Außenseiter im bereits verfilzten und korrupten Rom, gewann die Wahl zum Konsul (64 v. Chr.) gegen seinen Mitkandidaten Catilina.
Er erreichte dieses höchste politische Amt auf spektakuläre Weise und gegen den Widerstand des politischen Establishments obwohl er nicht – wie damals üblich – der Adelsschicht angehörte.
Die Ratschläge dieses wohl ersten Kampagnenberaters aller Zeiten sind heute so gültig wie vor 2.000 Jahren und nicht nur für Politiker interessant:
Die grundlegenden Tricks der politischen Klasse sollte jeder mündige Wähler kennen!
– Stelle sicher, dass Deine Familie und Deine Freunde hinter Dir stehen
– Umgib Dich mit den richtigen Menschen und vermeide Menschen, mit denen Du nicht assoziiert werden willst
– Erinnere alle, die Dir einen Gefallen schulden daran, dass jetzt die Zeit ist, ihn zurückzuzahlen
– Baue eine große Anhängerschaft auf
– Kommunikationsstärke ist der Schlüssel zum Erfolg
– Mache keinen Urlaub
– Kenne die Schwächen Deiner Gegner und nutze sie aus
– Schmeichle den Wählern hemmungslos
– Versprich jedem alles
– Werde nie konkret.
Das wären doch schöne 10 Gebote eines erfolgreichen Wahlkampfes?
Zu Marcus Tullius Cicero: http://www.whoswho.de/bio/marcus-tullius-cicero.html