„It’s the economy, stupid!„. Mit diesem Wahlkampf-Slogan von James Carville gewann Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahlen gegen Amtsinhaber George Bush.
Als geflügeltes Wort in Abwandlungen „It’s the …….., stupid“ vor allem in den USA für recht viele Themenbereiche in Verwendung, möchte ich es heute auch nutzen:
it’s the policy, stupid – auf die politischen Inhalte kommt es also an?
Wirklich?
Für mich gilt: Ein guter Politiker stellt nicht sich selbst, sondern die Sache in den Mittelpunkt seiner Überlegungen?
Meine Studenten wissen: die drei P’s zur Entscheidungsfindung bei der Wahl sind:
P Personen
P Programme
P Politische Praxis
Politik verstehen wir in drei Dimensionen polity[1] (Form), policy[2] (Inhalt) und politics[3] (Prozess).
Wenn es um die politischen Akteure geht, wird gerne der Gemeinplatz vom garstigen politischen Lied zitiert. Schon in Goethes Faust lesen wir „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“ und galt schon zur Goethezeit die weit verbreitete Ansicht, die Johann Gottfried Herder 1792 „Politisch Lied, ein böses, böses Lied“ nennt.
Es ist auch 200 Jahre später das Meinungsbild der Bevölkerung nicht viel besser geworden.
Die Mehrheit der Bevölkerung will keinen einzigen der Spitzenkandidaten der österreichweit zur Wahl stehenden Parteien wirklich haben! Nicht eine/r kommt über 20 % Zustimmung!
Also entscheiden wohl die Inhalte?
it’s the policy, stupid?
Ein rationaler Wähler, eine rational entscheidende Wählerin würde also dem Rational-Choice-Ansatz der Wahlverhaltensforschung[4] folgend wohl rational alle politischen Aussagen (Parteiprogramme) durcharbeiten und die Inhalte von A – Z wie
A Arbeitslosigkeit, Ausländer, Abfallentsorgung
B Bildung
C Charisma
D Demokratie
E Energie
F Frieden
G Gesundheit, Gesellschaft
H Hunger
I Inflation
J Jugend
K Konflikte
L Leben
M Migration
N Neutralität
O Orientierung, Ostöffnung
P Parteien, Pflege, Pensionssicherung
Q Qualität
R Religion
S Sicherheit
Sch Schule
St Steuerreform
T Teuerung,
U Umwelt, Unfall, Universität
V Verantwortung, Vollbeschäftigung, Verwaltungsreform, Verkehr
W Wirtschaft
X Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit)
Y Yuppie-Politik
Z Zukunft, Zivilgesellschaft
für sich und hinsichtlich eigener Vorstellungen – Downs zufolge verfolgt der rationale Wähler ja nur seine eigenen Interessen (Eigennutz-Axiom[5]) – ansehen.
Ist das so?
Damit der Wähler entscheiden kann, von welcher Partei er den größten Nutzen (bzw. den geringsten Schaden) erwarten kann, braucht er allerdings möglichst vollständige Informationen über die zur Wahl stehenden Parteien, über deren Handeln in der Vergangenheit und mögliches Verhalten in der Zukunft (retrospektives bzw. prospektives Wählen).
Um an diese Informationen zu kommen, muss der Wähler, die Wählerin allerdings einen erheblichen Aufwand betreiben.
Diesen als Informationskosten bezeichneten Aufwand wird der rationale Wähler jedoch nur auf sich nehmen, wenn der erwartete Nutzen größer als der Aufwand ist.
Daher wird sich der Wähler mit unvollständigen Informationen begnügen, seine Wahlentscheidung also unter einer gewissen Ungewissheit treffen.
Eine Möglichkeit, diese Ungewissheit zu begrenzen, ist, einen Teil der Informationskosten auf andere abzuwälzen, d.h. durch die Medien, Interessengruppen oder Parteien aufbereitete Informationen zu nutzen.
Neben den Informationskosten und dem Aufwand für die Wahlentscheidung selbst fallen noch Opportunitätskosten[6] für den Akt der Stimmabgabe selbst an:
Wer wählt, kann am Wahltag nicht verreisen und muss den Weg zum Wahllokal auf sich nehmen, oder muss sich vorher um Briefwahlunterlagen kümmern.
Jetzt wird es vollständig paradox.
Um Kandidaten zu wählen, von denen wir nicht viel halten, prüfen wir deren inhaltliche Vorstellungen, von denen wir leider auch nicht viel wissen (können) und gehen allem Unbill zu Trotze dennoch wählen?
Wahlparadox:
Ein großes Problem des traditionellen Rational-Choice-Ansatzes ist, dass er die in Österreich und anderen Ländern bei Wahlen auf nationaler Ebene anzutreffende relativ hohe Wahlbeteiligung nicht erklären kann.
Diese schwindet ja – wir wir immer wieder sehen (an der Gemeinderatswahl in Salzburg im März 2014 nahmen nicht einmal mehr 50 % der Wahlberechtigten teil) – auch recht deutlich.
Es ist für den Wähler eigentlich nicht rational, sich überhaupt an der Wahl zu beteiligen:
Da die eigene Wahlstimme mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht entscheidend für den Wahlausgang ist, kann der Wähler der Wahl genauso gut fernbleiben und erspart sich damit den mit der Wahl verbundenen Aufwand, ohne jedoch auf den erwarteten Nutzen eines bestimmten Regierungshandelns verzichten zu müssen.
Auch Downs war sich dieses Problems bewusst und postulierte einen vom konkreten Wahlausgang unabhängigen langfristigen Nutzen des Wählens:
die Aufrechterhaltung eines demokratischen Systems. Die Bürger sehen die Wahlteilnahme als Bürgerpflicht an, weshalb viele von ihnen letztendlich doch wählen gehen.
Wie lange noch?
Wahlbeteiligungsnorm:
Da es sich bei der Aufrechterhaltung der Demokratie jedoch um ein Kollektivgut handelt, von dessen Nutzen auch Nichtwähler nicht ausgeschlossen werden können, bedarf es noch eines weiteren Wahlanreizes.
James S. Coleman sieht diesen in einer „Wahlbeteiligungsnorm“, d.h. der gegenseitigen Erwartung unter den Wahlberechtigten, dass sie an der Wahl teilnehmen.
Da der rationale (Nicht-)Wähler bei Nichtbefolgung der Wahlbeteiligungsnorm mit Missfallensbekundungen zu rechnen hat und sich rechtfertigen muss, steigen für ihn die Kosten des Nichtwählens.
Die Wahlbeteiligungsnorm erklärt zwar hohe Wahlbeteiligungen, aber nicht die Entscheidung für eine bestimmte Partei.
Konzept des Expressiven Wählens:
Die Sozialwissenschaftler Geoffrey Brennan und Loren Lomasky schlagen daher das Konzept des Expressiven Wählens vor.
Demnach weist das Wählen, wie jegliche Handlungen, stets sowohl instrumentelle als auch expressive Nutzenkomponenten auf.
Während der instrumentelle Teil darauf abzielt, mittels der Wahl bestimmte Politikergebnisse herbeizuführen, besteht der expressive Nutzen im Ausdrücken einer persönlichen Präferenz – ähnlich den Anfeuerungsrufen bei einer Sportveranstaltungen.
Er dient vor allem als Mittel zur Aufrechterhaltung bzw. Verstärkung des Selbstwertgefühls des Wählers.
Dieser expressive Nutzen wird bereits durch die Handlung selbst realisiert, unabhängig davon, ob der instrumentelle Nutzen eintritt.
Unter der Annahme des expressiven Wählens tritt das Wahlparadox nicht mehr auf, weil der Wahlerfolg der präferierten Partei zwar erwünscht, aber nicht notwendig ist.
Da der instrumentelle Nutzen des Wählens gering ist, muss der expressive Nutze
n entsprechend groß sein.
Laut Brennan und Lomasky kann der expressive Nutzen dabei auch gegen die eigenen ökonomischen Interessen gerichtet sein.
Die Wahl von Protestparteien lässt sich im übrigen nicht nur durch die expressive Komponente erklären, sondern hat auch im engeren Sinne rationalen Charakter, da sie die etablierten Parteien zu einer Kursänderung bewegen kann.
Ist das so?
Das würde ich eben gerne mit Ihnen diskutieren:
– Wie reagieren ÖVP und Grüne auf die Wahlerfolge der NEOS?
– macht es überhaupt noch Sinn seine Stimme abzugeben und wenn ja warum?
– haben unsere politischen Parteien so etwas wir klare inhaltliche Vortellungen und wenn ja, wo kann man diese finden?
– ………
Ich freue mich auf Ihre Antworten.
[1] strukturelle, formelle und institutionelle Dimension – Staatsorganisation, Institutionen, politisches System und Theorie darüber
[2] inhaltliche Dimension, z.B. Familienpolitik, Wirtschaftspolitik …
[3] prozessuale Dimension – die politischen Prozesse und die Aktivitäten politischer Akteure
[4] Der Rational-Choice-Ansatz der Wahlverhaltensforschung ist ein Modell zur Erklärung des Wählerverhaltens und geht von einer rationalen Entscheidung des Wählers aus. Als rational gilt das Verhalten eines Wählers dann, wenn es ihm bei geringst möglichem Aufwand größtmöglichen Nutzen verspricht. Bekanntester Vertreter dieses Ansatzes ist Anthony Downs mit seiner 1957 veröffentlichten ökonomischen Theorie der Demokratie.
[5] Axiom (griech.: tà to~n progónon axiómata = als wahr angenommener Grundsatz) nennt man eine Aussage, die grundlegend ist und deshalb nicht innerhalb ihres Systems begründet werden muss
[6] Opportunitätskosten sind in der Wirtschaftswissenschaft Kosten, die dadurch entstehen, dass Möglichkeiten (Opportunitäten) zur maximalen Nutzung von Ressourcen nicht wahrgenommen wurden. Allgemeiner: Opportunitätskosten sind der Nutzen-entgang, der bei zwei Alternativen durch die Entscheidung für die eine und gegen die andere Möglichkeit entsteht. Wenn z.B. ein Unternehmen seine Ressourcen nicht so steuert, dass der maximale Gewinn daraus resultiert, so sind die Opportunitätskosten diejenigen Kosten, die damit einhergehen, dass man sich nicht für die ergebnisoptimale Lösung entschieden hat. Beispielsweise eine Firma, die ein Bürogebäude besitzt, das nicht benutzt wird. Durch eine Vermietung dieses Gebäudes hätte das Unternehmen Erträge erzielen können. Diese entgangenen Einnahmen werden als Opportunitätskosten bezeichnet